Luciano Chailly
Premiere 16. Januar 2022
In deutscher Sprache
Stück-Info
Ein Ehepaar sitzt gemütlich vor dem häuslichen Kamin. Man stellt fest, dass man in der Nähe von London lebt und Smith heißt. Später kommen noch die Martins hinzu und finden heraus, dass sie miteinander verheiratet sind. Auch der Feuerwehrhauptmann und das Dienstmädchen Mary kennen sich schon und die kahle Sängerin – sie trägt noch immer die gleiche Frisur! »Die kahle Sängerin« ist Eugène Ionescos erstes Theaterstück (1950) und der Auftakt zum ›Theater des Absurden‹. Aus einer Ansammlung häuslicher Szenen voller Nonsens, Situationskomik, Pseudo-Klischees und pointenlosen Anekdoten formt sich ein »Anti-Stück« voller Sprachakrobatik und Witz. Gemeinsam mit Ionesco verfasste der italienische Komponist Luciano Chailly (1920-2002) das Libretto zur gleichnamigen Oper und fing in seiner Komposition den Charakter der Figuren und ihrer Beziehungen mal mit einem Zupfquintett, leicht, eitel und tänzerisch, einem getragenen Streichquintett oder einem eher derb intonierenden Bläserquintett ein. In Semper Zwei ist die 1986 in Wien uraufgeführte Opern-Rarität nun in der Deutschen Erstaufführung zu erleben.
Es ist 9 Uhr abends. Mr. und Mrs. Smith sitzen vor ihrem Kamin und erwarten das Ehepaar Martin. Diese stellen bei ihrer Ankunft fest, dass sie vermutlich miteinander verheiratet und froh sind, sich endlich wiedergefunden zu haben. Mary bezweifelt, dass dies wirklich der Fall ist. Die Ehepaare unterhalten sich, als der Feuerwehrhauptmann eintritt. Er ist auf der Suche nach einem Feuer und klagt den Anwesenden sein Leid, dass es immer weniger Feuer zu löschen gibt. Die Gastgeber fordern ihn auf, noch zu bleiben und sie mit witzigen Anekdoten zu unterhalten. Auch das Dienstmädchen Mary, die Anekdoten für ihr Leben gern erzählt, möchte eine Geschichte zum Besten geben. Sie erkennt in dem Feuerwehrhauptmann ihren ersten Freund wieder und fällt ihm freudestrahlend um den Hals. Auf dem Weg nach draußen erkundigt sich der Feuerwehrhauptmann nach der kahlen Sängerin. Sie trägt immer noch dieselbe Frisur, versichert man ihm.
Werkeinführung
Mit »Die kahle Sängerin« wird Semper Zwei zur Bühne des Absurden Theaters. Die 1986 in Wien uraufgeführte Kammeroper aus der Feder des italienischen Komponisten Luciano Chailly nach dem gleichnamigen Schauspiel von Eugène Ionesco erlebt in Dresden in der Regie von Barbora Horáková ihre Deutsche Erstaufführung. Operndramaturgin Juliane Schunke gibt Einblicke in die Hintergründe und Entstehung dieser besonderen Oper, deren Libretto auf einem Anti-Theaterstück basiert und den Zuschauer direkt in das spießige englische Wohnzimmer der Familie Smith führt.
Galerie
Die kahle Sängerin
Vorgestellt
Vorgestellt: »Die kahle Sängerin«
Szenische Mitschnitte aus ungewöhnlicher Perspektive sowie ein Interview mit dem Musikalischen Leiter Thomas Leo Cadenbach gewähren Einblick in die kompositorischen Aspekte der Kammeroper von Luciano Chailly.
Ionesco und Chailly
Ganz einfache Gedanken über das Theater
von Eugène Ionesco
Wenn mich die Schauspieler störten, weil ihr Tun mir unnatürlich erschien, so kam das wohl daher, weil auch sie zu natürlich sein wollten oder auch wirklich waren. Wenn sie dieses Streben nach Natürlichkeit aufgeben könnten, würden sie die Natur wahrscheinlich auf andere Weise wieder erreichen. Sie dürfen keine Angst haben, nicht natürlich zu sein.
Vertrauliche Einleitung
von Luciano Chailly
»La cantatrice calva« (»Die kahle Sängerin«) ist meine dreizehnte lyrische Oper. Wie bin ich nach den Vertonungen Buzzati, Tschechow, Gracq, Stevenson, Dostojewski, Pirandello eigentlich auf Ionesco gekommen? Und weshalb, ganz besonders, auf »La cantatrice calva«?
Die Idee stammt von meinen drei Kindern, weshalb ich ihnen diese Oper auch gewidmet habe. Cecilia (Harfenistin) sagte zu mir: »Warum schreibst du in einer Zeit langweiliger Opern nicht wieder eine komische Oper?«. Riccardo (Dirigent) sagte: »Sie müsste sein wie ›Procedura penale‹ (›Die Strafprozedur‹), die nach Texten von Buzzati eine gelungene komische Oper geworden ist«. Floriana (Regisseurin) meinte: »Und warum denkst du eigentlich nicht an die ›Cantatrice calva‹ von Eugène Ionesco?«
Und das habe ich dann gemacht. Ich habe Ionescos Einakter zum Opernlibretto umgeschrieben und nicht ein einziges Wort vom Text des großartigen Autors geändert. Ich habe nur Nicht-Notwendiges gestrichen, um das unbedingt Notwendige für den Opernzweck zu behalten. Dann habe ich Ionesco das Textbuch geschickt und er war voll und ganz zufrieden damit. In Bezug auf die Musik bin ich zuerst daran gegangen, für die Figuren rhythmische und melodische Muster zu erfinden, jede Figur sollte eine eigene Art und Weise der Aussprache, des Gesangs und des Ausdrucks bekommen. Darüber hinaus erfand ich eine besondere Orchestrierung, die eine Wechselbeziehung zwischen den Klangfarben der Instrumente und den Charakteren der Personen ermöglichen sollte. Eine ähnliche Gliederung hatte ich bereits bei meinen früheren komischen Opern angewandt: »Una domanda di matrimonio« (»Der Heiratsantrag«) nach Tschechow und »Procedura penale« von Buzzati. Diese Technik hat zum Beispiel auch der Dramatiker Samuel Beckett für sein Schauspiel »Quad« verwendet, um »für jeden Interpreten einen besonderen Ton« zu bestimmen. Das Instrumentalensemble von »La cantatrice calva« setzt sich daher aus einem dreifachen Quintett zusammen. Für das Ehepaar Smith (wankelmütig und schwatzhaft) wählte ich ein Zupfinstrument-Quintett (Mandoline, Mandola, Gitarre, Harfe, Cembalo) aus und für das Ehepaar Martin (verhalten und grotesk) ein Streichquintett. Als drittes habe ich ein Blasinstrument-Quintett vorgesehen, das sich zwischen Mary, der flatterhaften und raffinierten Zofe (Flöte und Oboe d’amore) und dem feierlichen, aber erbärmlichen Feierwehrhauptmann (Hekelphon, Bassetthorn, Kontrafagott) aufteilt. Ich nahm mir die Freiheit und gab nach eigenem Ermessen der »Cantatrice calva« (eine inexistente Figur) eine Stimme: von weit herkommende, fantasierende Koloraturen, die mit ihrem Charme alle bezaubern und zur Verfremdung des Schlusskonzerts führen.
Von der Form her besteht die Oper aus 20 Variationen, die auf ein Anfangsthema (»la pendola« = die Standuhr) folgen. Sie sind in Bezug auf die jeweilige dramatische Situation konzipiert und werden durch musikalische Überleitungen, Rezitative und Schlusssätze miteinander verbunden.
Darüber hinaus gibt es in der Oper zwei musikalische Ebenen: zum einen lautmalerische Halluzinationen in Übereinstimmung mit den paradoxen Situationen des Stückes und dann eine Reihe rhythmischer, asymmetrischer, verzerrter, manchmal wie besessen wirkender Pulsationen, die die Figuren, ihr karikaturistisches und groteskes Bewusstsein interpretieren.